Freitag, 17. Juni 2005

Kapitel I

Dämmerlicht. Tief drinnen in einem Gewirr aus Farnen, Blättern und Lianen, berührt nur wenig Tageslicht den Boden. Meist gar nicht.
Nichts hat klare Umrisse. Und alles geht unter in einer Welt aus grünen bis olivfarbenen Farbtupfen, deren wahre Form der warme Dunst verhüllt. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass Schweiß und Wasser nicht mehr von einander zu unterscheiden sind.
In diesem Teil des Dschungels scheinen selbst die unzähligen sonst so lautstarken Vögel nur zu flüstern. Nur lediglich das Summen und Brummen der Millionen von Insekten lässt sich nicht von Düsternis beeindrucken. Doch ihre stechenden Saugapparate stören mich nicht.
Mein Weg führt mich noch tiefer zu dem Ort, den selbst die furchtlosesten Jaguare meiden. Er ist zu dunkel, zu still, zu gefährlich.
Nie habe ich diesen Ort gesehen, noch nie war ich dort; dennoch kenne ich die Richtung, die ich schon sooft eingeschlagen habe. Mittlerweile bin ich soweit vorgedrungen, dass die Zeit stehen geblieben zu sein scheint: Die Vögel schweigen, die Blutsauger verschwunden und alle anderen Geräusche verbannt. Stille.
Ich bleibe kurz stehen, um mich ein wenig umzusehen. Es ist so schwül. Und so still. Kein Laut. Ich warte.
Doch plötzlich höre ich etwas! Das leise Rascheln in dieser unnatürlichen Ruhe kam von links, und ließ meine Glieder zusammenzucken. Mein Herz rast. Meine Beine wollen weglaufen. Alles an mir will fliehen. Fort von hier. Sämtliche Sinne schreien danach wegzurennen. Überallhin, nur weg von hier! Ich will - nein, ich muss fliehen! Nicht nur meine Sinne verraten mir die Gefahr. Ich wusste schon, dass mich an diesem Ort Schreckliches erwarten würde. Ich war mir all der Gefahr bewusst, trotzdem kam ich her. Und jetzt stehe ich da.
Wieder ein Rascheln. Diesmal zu meiner Rechten. Mein Körper scheint sich meiner Kontrolle entziehen zu wollen. Er zerrt, er befiehlt, er fleht mich an zu gehen. Aber ich darf nicht gehen. kann mir nicht schon wieder einen Rückzieher erlauben! Hinter mir ein leises Knacken, das Brechen eines trockenen Zweigs.
Nein! Ich muss bleiben! Ich muss! Ich darf nicht gehen!
Die Gefahr kommt immer näher und wächst zu gewaltiger Größe heran. Ich spüre sie, und sie nimmt mir den Atem. Mit stetigem Druck eilt sie heran, um mich zu betäuben. Damit ich nicht mehr weglaufen KANN. Damit sie mir schon vorher sämtliche Luft aus meinen Lungen pressen kann, so dass ich den Schmerz noch stärker werde spüren können. Die Gafahr ist schon da, um mich herum, in mir, in meinen Erinnerungen. Und sie schürt die Gewissheit. Meine Gewissheit, trotz der ich hierher kam: Ich sollte getötet werden.
Vor mir ein gedämpftes Ächzen! Dann ein ohrenbetäubender Knall!
Der herzzerreissende Schmerz...

Schweißgebadet wache ich auf. Schon wieder dieser Traum! Doch soweit wie heute bin ich noch nie gekommen... Ich kann den Schmerz noch ganz genau fühlen. Mitten in meinem Brustbein.
Auf einmal geht das Licht an.
"Jessy?"
Meine Mutter. Die Art wie sie meinen Namen ausspricht klingt irgendwie besorgt...ich werd doch nicht...?...
"Hey, was war denn los? Du hast geschrien..."
Na klasse. Ich habe geschrien.
"Ich hatte 'nen schlechten Traum. Das ist alles."
"Sicher? Erzähl. Was ist passiert?"
Obwohl sie anscheinend versucht ruhig zu sein, sehe ich, dass sie es wohl geschafft hat die 36 Stufen der Treppe innerhalb von zwei Sekunden zu überwinden. Ziemlich erschöpft sieht sie mit ihren zerwühlten Haaren und in ihrem weißen Négligé, dessen einer Träger die Schulter runtergerutscht ist, aus.
"War es wieder dieser Traum?"
Das "dieser" hat sie mit einen bestimmten Unterton ausgesprochen, dass ich sofort merke, dass sie meine unzähligen Alptraumnächte nicht vergessen hat.
"Ja, nur viel ...viel...ach, keine Ahnung."
"Was 'viel'? Viel schöner, viel toller, viel witziger?" Sie lächelt ein wenig. "Ich dachte, es wäre vorbei. Schließlich ist das nun schon einige Jahre nicht mehr vorgekommen."
"Ja, dachte ich auch."
Sie weiss zum Glück nicht, dass ich ihn doch noch sehr regelmäßig träume. Diesen Traum. Ich habe nur gelernt nicht mehr zu schreien. Denn langsam machten sich auch unsere Nachbarn Sorgen und meine Eltern mussten sich rechtfertigen, mich in meiner frühen Kindheit nicht misshandelt zu haben. Deshalb habe ich vor etwa vier Jahren begonnen, mir das stille Schreien anzugewöhnen.
"Ok. Vielleicht solltest du erst ein bisschen lesen, bevor du wieder einschläfst: Das lenkt ein wenig ab."
Meine Mum scheint, wohl zu merken, dass ich nicht wirklich darüber reden will.
"In Ordnung. Mal schauen."
"Ist auch wirklich alles in Ordnung?"
"Ja schon."
"Na dann..." Sie macht Anstalten sich von meinem Bett zu erheben und aus meinem Zimmer zu gehen. "Gute Nacht. Schlaf noch gut."
"Gute Nacht, bis später!"
Ich sehe auf die Uhr: Es ist vier Uhr morgens. Wen ich jetzt zu lesen anfange schlafe ich nicht vor fünf Uhr ein. Und dann kann ich auch gleich wach bleiben, weil mich mein Wecker dann eh nicht mehr lange schlafen lässt. Also, mache ich das Licht wieder aus, das meine Mum beim Reingehen in mein Zimmer angemacht hatte, und schließe meine Augen.
Diesen Traum habe ich schon, seit ich denken kann. Er besucht mich momentan etwa alle fünf Monate. Früher war das noch viel schlimmer. Meine Eltern sagen, dass ich schon als kleines Baby jede Nacht geschrien habe. Und nicht etwa vor Hunger, sondern vor Angst.
Mit ungefähr fünf Jahren, wachte ich nur noch jede siebte oder achte Nacht auf; und mit zwölf Jahren aufgerundet alle eineinhalb Monate.
Einmal träumte ich, dass auf meinem Weg ein verwundetes Pferd lag. Mitten im Dschungel! Und als ich näher kam, bemerkte ich, dass es bereits tot war, aber immernoch trotz der Millionen von Fliegen, die auf dem Kadaver ihre Eier legten, blutete und gar nicht mehr aufhören wollte. Es floss soviel Blut, dass ich schon bis zu den Knöcheln darin stand. Aber als ich fortlaufen wollte, stolperte ich und fiel in die Blutlache.
Beim Aufwachen wurde ich damit konfrontiert, in dieser Nacht eine Frau geworden zu sein. Und nicht nur das! Mein Cousin, der an diesem Abend mein "Babysitter" war und in mein Zimmer gerannt kam, weil ich wiedermal geschrien hatte, hat gesehen, dass mein Laken und mein Nachthemd voller Blut waren. Das war mir so unangenehm, dass ich danach kontinuierlich das Schreien zu unterdrücken übte und meine Eltern somit glaubten, ich wäre "geheilt".
Heute bin ich 17 und noch nie bin ich meinem Weg soweit gefolgt wie heute Nacht. Im Laufe der Zeit, erkämpfte ich mir Meter für Meter in der Hoffnung, trotz der Angst und der Gefahr, am Ende den Grund für meine nächtliche Qual zu finden. Und heute war ich ganz nahe dran! Doch was mich am meisten schockiert ist, dass ich immer WUSSTE, dass es nur ein Traum ist, und heute war es so ... irgendwie real ... zu real für einen Traum.
Ich spüre, wie diese Bedrücktheit, die ich fühlte, als die "Gefahr" kam, mich wieder überkommt. Diese Angst. Dieser bedrohliche Ort. Jedesmal ist es, als würde mich etwas zwingen diesen Weg zu gehen. Ich kann die Richtung nicht ändern. Das Wesen, das alles verursacht... Was ist es? Wer ist es? Warum sehnt es meinen Tod herbei? Dieser unglaubliche Schmerz in meinem Solar Plexus, viel schlimmer als alles andere. Diese...

Schnell schüttel ich meinen Kopf, mache meine Nachtlampe an, schnappe mir ein Buch und beginne zu lesen.

...

There's nothing impossible to him who will try.

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